„Klar sind wir vielfältig! Und tolerant! Wir lieben ja Persönlichkeiten!“

Redakteur*in
Redakteur*in, 27.02.2023

Vielfalt oder Diversität – das ist ein Thema, an dem man in der heutigen Unternehmenswelt nicht mehr vorbeikommt, oder?

Absolut! Und es ist ebenso spannend wie erfreulich zu sehen, dass es immer mehr in den Fokus rückt. Doch gerade weil dieses Thema in den letzten Jahren so viel Fahrt aufgenommen hat, scheint es mir wichtig, genau hinzuschauen, wie weit es mit der Vielfalt und der damit einhergehenden Toleranz tatsächlich her ist. Also im gelebten Berufsalltag.

 

Siehst Du in diesen Bereichen eine Kluft zwischen Theorie und Praxis? Einen Wert wie Vielfalt möchte doch heute eigentlich jeder in seinem Unternehmen vertreten wissen, oder?

Klar, Wahrnehmung und Wertschätzung von personeller Vielfalt in seiner Unternehmenskultur zu verankern, klingt ja erstmal super. Wer wünscht sich das nicht? Auch ich würde das sofort unterzeichnen!

Doch inwiefern Vielfalt und damit ebenso Toleranz in einem Unternehmen, einem Team oder einem System gelebt werden und nicht nur als trockene Tinte in einer Signatur stehen, zeigt sich oft erst in Stresssituationen. Also wenn es zum Beispiel persönlich wird oder emotional bewegt. Emotionen sind immer ein Prüfstein von Toleranz.

 

Zum Beispiel?

Ein Klassiker ist das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Generationen. Wobei das Schimpfen auf die jungen Leute von heute natürlich vom Prinzip her ein alter Hut ist. Immer wieder, so auch in letzter Zeit, erlebt man ein Erstaunen darüber, dass die ganz Jungen, die gerade auf den Arbeitsmarkt kommen, momentan also die sogenannte Generation Z, offenbar ein wenig anders ticken.

Hier treffen Wertesysteme oder Weltbilder aufeinander, und dass beide Seiten ihr jeweiliges System verteidigen, realisieren wollen, ist klar. Das ist auch nicht intolerant. Denn Austausch und Diskurs – ich nehme bewusst dieses vielbemühte Wort – sind Voraussetzung für Toleranz.

 

Je bunter und vielfältiger die Persönlichkeiten in einem Team, desto wichtiger die Kommunikation?

Genau. Und hier wird es interessant: in einem modernen Unternehmen ruft man momentan gern nach starken Persönlichkeiten. Auch AENEAS schreibt sich das ja auf die Fahnen. Doch was heißt das in der Praxis?

Kann man mit den Persönlichkeiten auch dann umgehen, wenn sie ihr eigenes, eventuell von anderen Teammitgliedern abweichendes Wertesystem vertreten? Bei AENEAS, so habe ich auf Eurem Blog gelesen, ist man sich dieser Fragen ja durchaus bewusst und geht sie proaktiv an. Und ich glaube, das ist wesentlich: denn natürlich kann es unter Umständen anstrengender sein, Persönlichkeiten ein Mitspracherecht zu gewährleisten, als sie in einer Top-Down-Mentalität zu managen.

 

Das ist ja nun auch ein recht veraltetes Bild. Gibt es Derartiges überhaupt noch in einer modernen Unternehmenswelt?

Zugegeben, das ist nun deutlich überzeichnet. Doch worauf ich hinauswill, ist: man muss auch den Kontext berücksichtigen. Was passiert zum Beispiel, wenn man sich in einem System befindet, dass ein Abweichen vom Mainstream verurteilt? Das postuliert, hier sei keine Toleranz mehr angebracht?

Provokant möchte ich sagen: es ist in unserer Gesellschaft momentan leicht zu äußern, dass man sich – natürlich! – wünscht, people of colour sollen die gleichen Chancen im Beruf haben wie alle anderen. Schwieriger kann es aber sein, jenen zuzuhören und sie gegebenenfalls auch zu tolerieren, die eine vom Mainstream und seinen Forderungen abweichende Einstellung haben.  

 

Kommt das in der Praxis Deiner Erfahrung nach häufig vor? Oder finden sich dort nicht eher die Menschen zusammen, die ohnehin ein ähnliches Wertesystem vertreten?

Das genau ist oft die Hürde. Denn die Bubbles, die Blasen, in denen sich Gleichgesinnte bewegen, werden zunehmend abgegrenzter. Und oft auch unnachgiebiger. Die letzten drei Jahre konnte man häufig Äußerungen hören wie: „Dafür habe ich nun gar kein Verständnis mehr.“ – In meinen Augen ein Ausspruch, der nicht eben von Toleranzwilligkeit kündet.

Und nun beißt sich die Katze langsam, aber sicher in den eigenen Schwanz. Denn wer sagt eigentlich, was tolerierbar ist und was nicht? Und was daher – fast als sei es offiziell beglaubigt – in Ausgrenzung münden darf?

Ich habe den Eindruck, dass uns die Kommunikation und der Umgang mit Andersdenkenden, oder sagen wir mit den anderen Bubbles, die letzten Jahre nicht besonders gut gelungen ist.

 

Dabei ist doch das Bewusstsein für Ausgrenzung in vielen Bereichen sehr gewachsen?

Ja, in manchen Bereichen zum Glück schon. Sogar so sehr, dass es manchmal unerwartet heiter werden kann: neulich rutschte jemandem im Gespräch heraus, dass sein Unternehmen in einem bestimmten Bereich noch keine Erfahrungen habe und dort leider völlig jungfräulich sei – um sich gleich darauf zu entschuldigen, da er sich nicht sicher war, ob man das heute überhaupt noch so sagen dürfe. Wir haben dann gemeinsam sehr gelacht bei der Überlegung, wie man die Jungfrau gendern könne und ob Sprachmetaphern divers zu verwenden seien.

 

Also ist viel in Bewegung.

Ja, offenbar leben wir momentan in Zeiten des Umbruchs. Von daher ist der Ruf nach Vielfalt und Toleranz vielleicht gerade augenblicklich so laut und eindringlich. Umgekehrt ist es aber ebenso wichtig, bei sich zu bleiben. Zu prüfen, wo etwas nur geschrieben steht – und wo wirklich gelebt. Und manchmal erscheint es mir sogar so, dass an einer bestimmten Stelle nach Vielfalt und Toleranz gerufen wird, weil sie in anderen Bereichen gerade in besonderer Weise nicht realisiert wird. Quasi wie eine Übersprungshandlung.

 

Misstraust Du dem Ruf nach Toleranz?

Nicht immer. Aber manchmal schon. Und ich glaube, das ist gut, denn es lohnt sich, genau hinzuschauen. Dafür ist das Thema zu wichtig.

Toleranz darf nicht zum reinen Tschakka werden. Weder als Argument für: „Der andere kann tun und lassen, was er will – ich toleriere alles.“ Noch zum Ablenkungsmanöver oder unbewussten Ablasshandel für Themen: „Wir sind ja schon hier tolerant. Dann müssen wir es da nicht auch noch sein.“

Kurzum: Der Ruf nach Toleranz darf weder Tschakka noch Feigenblatt sein.

 

Wir bedanken uns recht herzlich bei Bettina Nolting für dieses interessante Interview und hoffen, dass Sie viel Spaß beim Lesen hatten!

AENEAS Blog