In vielen Unternehmen wird zunehmend eine Diversity-Strategie implementiert. Warum beginnen Ihrer Meinung nach Unternehmen erst jetzt, den Fokus auf Diversity zu legen?
Ana-Cristina Grohnert: Vor 10 Jahren wurde in Deutschland die Charta der Vielfalt ins Leben gerufen. Diversity – oder auch Vielfalt – war damals in vielen Unternehmen Deutschlands kaum ein Thema. Seitdem haben wir aber viel erreicht!
Es gibt viele großartige Unternehmen, die uns schon gleich zu Beginn tatkräftig unterstützt haben. Insofern ist es nicht ganz richtig, dass die Unternehmen jetzt erst anfangen, das Thema ernst zu nehmen. Aber tatsächlich hat Diversity als Entwicklungsprozess in den vergangenen zwei bis drei Jahren deutlich an Fahrt aufgenommen. Das liegt meines Erachtens schlicht daran, dass die Unternehmen gemerkt haben, dass Vielfalt kein reines Imagethema ist, sondern handfeste ökonomische Vorteile bietet.
In Zeiten eines gravierenden Fachkräftemangels in fast allen Branchen können Unternehmen es sich nicht mehr leisten, die Hälfte der Bevölkerung als Arbeitnehmende zweiter Klasse zu behandeln. Außerdem entscheiden sich Talente mittlerweile eher für ein wertorientiertes Unternehmen als Arbeitgeber. Auch deshalb ist es entscheidend, eine Unternehmenskultur zu etablieren, die Fairness, Wertschätzung und Gleichberechtigung in den Fokus stellt.
Die Charta der Vielfalt hat in ihrer Studie aus dem Jahr 2020 festgestellt, dass Mitglieder der Charta der Vielfalt deutlich mehr Vorteile in Diversity sehen als Nicht-Unterzeichner*innen. Woran liegt Ihrer Meinung nach diese Kluft in der Einschätzung?
ACG: Die unterzeichnenden Unternehmen haben meist bereits konkrete Diversity-Maßnahmen in ihrer Unternehmensstrategie verankert und ernten deshalb schon die Früchte ihrer Bemühungen. Sie bemerken messbare Verbesserungen in ihren Unternehmenskennzahlen wie Fluktuation, Produktivität, Zufriedenheit und Motivation der Mitarbeitenden und auch hinsichtlich „harter“ betriebswirtschaftlicher Kennzahlen wie Umsatz und Ergebnis.
Diese Erfahrungen lassen sich in Studien bestätigen. Eine Analyse von Deloitte aus dem Jahre 2018 belegt dies mit Zahlen. Unter dem Titel „The rise of the social enterprise“ definiert das Papier drei Erfolgsfaktoren für Unternehmen: Mitarbeiter:innenengagement, Kund:innenzufriedenheit und Innovationskraft. Für alle drei Bereiche ermittelt die Unternehmensberatung massive Steigerungsraten durch ein erfolgreiches Inklusionsmanagement diverser Teams. In diesem Fall sei es dreimal wahrscheinlicher, dass Mitarbeitende zu Höchstleistungen fähig sind, sechsmal wahrscheinlicher, dass das Unternehmen innovativ arbeitet, und eine positive Kund:inneninteraktion sei sogar achtmal wahrscheinlicher.
In den vergangenen Jahren erfuhr das Thema Diversity und Diversity-Management einen starken Aufschwung, doch viele Unternehmen haben während der Pandemie ihre Prioritäten verändert. Wirkt sich dies nun negativ auf die Zukunft von Diversity in Unternehmen aus?
ACG: Ja, angesichts der vielen globalen Krisen stehen Unternehmen plötzlich vor ganz neuen Herausforderungen: einbrechende Lieferketten, Einschränkungen in der Energieversorgung, Inflation, Nachfrageeinbrüche. Diese Herausforderungen sind vermeintlich dringender, so dass Diversity teilweise als „Schönwetterthema“ hintenangestellt wird – für bessere Zeiten.
Aber das ist sehr kurzsichtig. Denn Diversity ist die Lösung für diese Herausforderungen. Oder etwas vorsichtiger formuliert: Unternehmen mit möglichst vielfältigen Teams sind deutlich besser für diese Herausforderungen gerüstet.
Warum ist das so? Wir haben aktuell mit einer Krisenhäufung und Volatilität der Märkte zu tun, wie es die deutsche Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten kaum erlebt hat. Etablierte Geschäftsmodelle stehen plötzlich vor dem Aus, Lieferketten müssen komplett neu gedacht werden, die Bedürfnisse der Zielgruppen verändern sich rasant.
Diese Entwicklungen fordern eine hohe Flexibilität von Organisationen. Sie müssen binnen kürzester Zeit in der Lage sein, eine vollkommen neue Perspektive einzunehmen und in ganz neue Richtungen zu denken.
Nur: Wo soll diese Perspektivenerweiterung herkommen, wenn man mit den gleichen Menschen in den gleichen Konferenzräumen auf die gleichen Power-Point-Charts starrt?
Dieser „Mindshift“ ist nur möglich durch Vielfalt. Wer neue Wege gehen will, braucht verschiedene Persönlichkeiten, Erfahrungsschätze, Temperamente und Begabungen. Oder anders gesagt: Monokulturen sind ein Hochrisikozustand – im Management wie in der Forstwirtschaft. So wie der deutsche Wald jetzt internationale Verstärkung durch klimaresistente Bäume wie die japanische Lärche oder den amerikanischen Hickory Baum braucht, so benötigen Führungsetagen jetzt eine möglichst diverse Zusammensetzung.
Laut der Bundesagentur für Arbeit können durch Diversity Management ca. 2,2 bis 4,6 Millionen zusätzliche Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt gewonnen werden. Welche Rolle kommt dabei der Personaldienstleistungsbranche zu?
ACG: Gerade in der Headhunter-Szene herrscht meines Erachtens noch viel Nachholbedarf. Genau wie die Unternehmen sich an die immer gleichen Recruiting-Dienstleister für ihre jeweilige Branche wenden, so kontaktieren diese Firmen die immer gleichen Personen aus ihren Kontaktlisten. Dabei regiert die Überzeugung: Never change a winning team. Wenn eine Person ein Unternehmen verlässt, wird jemand gesucht, der möglichst ähnlich ist und möglichst reibungsfrei in das bestehende Team passt.
Moderne Personaldienstleister sollten hier neue Wege gehen. Sie sollten dazu beitragen, mehr Gruppen den Zugang zu attraktiven Jobs zu vermitteln. Das kann darin bestehen, dass sie Unternehmen für Job-Sharing-Modelle auch für Führungspositionen begeistern. Oder indem sie Unternehmen Möglichkeiten aufzeigen, behinderte Menschen in ihre Organisation zu integrieren. Oder ihnen bei bürokratischen Hilfen beim Einstellen von Menschen mit Migrationshintergrund zu helfen.
Wie sieht Ihrer Meinung nach eine gelungene Diversity-Strategie für das Recruiting von neuen Mitarbeiter*innen aus?
ACG: Eine ernstgemeinte Recruiting-Strategie, die auf Diversity basiert, erfordert einen ganzheitlichen Ansatz. Es beginnt beim Hinterfragen der bestehenden Prozesse: Wie suchen wir bisher Mitarbeitende? Wo suchen wir sie? Welche Skills stellen wir dabei in den Vordergrund? Um wirklich divers besetzte Teams zu generieren, müssen diese Schritte neu gedacht werden.
Die Stellenanzeigen sollten auf Vielfalt ausgerichtet sein. Und vielleicht muss man auch nicht immer die berühmte eierlegende Wollmilchsau suchen, sondern kann sich auf die wirklich essenziellen Qualifikationen beschränken. Zum Beispiel interkulturelle Kompetenz. Auch im Employer Branding sollte Diversity als Key-Message transportiert werden. Ein Unternehmen, das glaubwürdig für Vielfalt und Toleranz steht, zieht automatisch mehr Talente aus allen Bevölkerungsgruppen an. Auch Empfehlungen von Mitarbeitenden auf Bewertungsportalen können im Recruiting unterstützen, wenn sie glaubwürdig von Fairness und Miteinander am Arbeitsplatz berichten.
Entscheidend ist zudem ein vorurteilsfreier Auswahlprozess. Zum Beispiel durch Blind Hiring, also anonymisierte Bewerbungen. Und die Mitarbeitenden im HR-Bereich müssen auf ein vorurteilsfreies Recruiting geschult werden. Denn gerade die sogenannten unconscious bias, also die unbewussten Vorurteile gegenüber bestimmten Personengruppen, erweisen sich als äußerst hartnäckig.
Zur Person:
Ana-Christina Grohnert ist seit 2013 Vorstandsvorsitzende der Arbeitgeberinitiative Charta der Vielfalt. Auf Basis ihrer vielen Erfahrungen als Managing Partner bei Ernst & Young sowie als Vorstandsmitglied für Personal und Innere Dienste bei der Allianz Deutschland AG begleitet und gestaltet sie Unternehmenstransformationen hinsichtlich des Business- und Personalmanagers. Als Buchautorin setzt sie sich für mehr Nachhaltigkeit, Vielfalt und Wertschätzung in der Wirtschaft ein.